Christoph Niessen warnt vor den Folgen des zweiten Lockdown. Vereine brauchen Überbrückungshilfe des Bundes, Kinder und Jugendliche brauchen Bewegung – sonst droht eine verlorene Generation, sagt der Chef des LSB Nordrhein-Westfalen.
Die gleiche Situation besteht auch in allen anderen Bundesländern, so auch in Brandenburg und Sachsen. Eine Leseempfehlung von Hans-Joachim Weidner.
Wird es mit dem November-Lockdown so schlimm kommen wie im März und April befürchtet: Milliardenverluste in den Kassen der Vereine, Millionenverluste bei den Mitgliedern und Niedergang der sportlichen Vielfalt?
Der Sport wird auch diese Krise überstehen. Er lebt von Engagement, von Emotionen und von Leidenschaft. Diese werden auch durch diese Krise nicht verlorengehen. Gleichwohl ist dies eine ganz bittere Pille. Der organisierte Sport hatte nach den Sommerferien gerade begonnen, sich zu sortieren. Dies nun zu stoppen wird nicht ohne Folgen bleiben. Vier Wochen sind zu überstehen. Aber länger darf es nicht dauern. Der Sport darf nicht, wie im Frühjahr, der Allerletzte sein, der bei Lockerungen zugelassen wird.
Die 18 000 Vereine in Nordrhein-Westfalen haben von den zehn Millionen Euro Soforthilfe, die das Land zur Verfügung gestellt hat, nur gut sechs Millionen abgerufen – ein Zeichen, dass sie ganz gut durch die Krise gekommen sind. Warum sind die bevorstehenden vier Wochen so viel schlimmer als die drei Monate plus Sommerferien, die Sie überstanden haben?
Eine Krisenphase ist überstanden. Der organisierte Sport lebt ganz überwiegend vom ehrenamtlichen Engagement. Viele Vereinsvertreter berichten, dass zunächst eine große Gemeinschaft gewachsen ist mit einem Gefühl von Trotz: Wir werden das bewältigen. Aber die Menschen ermüden. Man kann so etwas nicht beliebig wiederholen. In der Masse der Vereine sind nicht wirtschaftliche Schäden zu befürchten, sondern der Verlust von Engagement und Motivation. Da zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres keine Angebote stattfinden und unklar ist, ob es im Dezember wirklich besser wird, steht zudem zu erwarten, dass die Mitglieder darüber nachdenken, zum Jahresende zu kündigen.
Der Zusammenhalt bröckelt?
Bisher haben wir eine phantastische Solidarität, dies ist ein Grundwert des organisierten Sports. Die Zahl der Kündigungen ist übersichtlich; sie liegt im einstelligen Prozentbereich. Aber eine zweite Krise löst etwas aus. Die Mitglieder der Vereine fragen sich, ob überhaupt noch etwas stattfinden kann in diesem Jahr, und überlegen, ob sie den Verein verlassen.
Werden die Großvereine mit hauptamtlichen Beschäftigten, zum Teil mehr als hundert, werden die Vereine, die Fitnessstudios betreiben, Kurse anbieten und Gesundheits- und Reha-Sport, den die Krankenkassen bezahlen, werden die Klubs, die vom Spielbetrieb leben, an den zehn Milliarden Euro partizipieren, die der Bund Unternehmen und Unternehmern in Aussicht stellt?
Vereine müssen davon profitieren können. Das werden wir bei der Politik durchsetzen. Es kann nicht sein, dass Vereine davon ausgeschlossen sind. Sie sind bei den Überbrückungshilfen des Bundes zu oft nicht mitgedacht worden. Die Länder sind näher dran und haben viel gemacht, gerade NRW, das muss ich loben. Jeder Verein, dem jetzt Stillstand verordnet wird, muss selbstverständlich wie jeder andere Betrieb von diesen Hilfen partizipieren. Ich sehe keinen Unterschied zu Unternehmen gleicher Größe.
Man hört von zunehmender Verwahrlosung und Gewalt in Familien. Wie verändert sich eine Gesellschaft ohne Sport?
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Kinder sind nicht allein deshalb gebildet, weil sie in der Schule Mathe und Fremdsprachen lernen. Zum Erwachsenwerden und zu einer umfassenden Bildung gehören Sport und Bewegung ebenso wie ein musisch-kultureller Anteil. Das ist es, was einen Menschen umfassend bildet. Mein Wunsch ist, dass mehr Eltern und mehr Politiker erkennen, dass es so ist. Sie sollten nicht nur darauf schielen, dass das Kind im schulischen Raum irgendwie untergebracht ist, und was sonst passiert, ist egal. Sport ist nicht einfach nur Spaß. Sport ist ein elementarer Bestandteil von Bildung. Je kleiner Kinder sind, desto mehr gilt dies. Kinder erschließen sich die Welt durch Sprache und durch Bewegung.
Wie blicken Sie auf die bevorstehenden vier Wochen?
Heute wird gesagt: Am 30. November ist der Lockdown vorbei. Wir wissen alle, dass es eine unrealistische Annahme ist, dass im Dezember die Welt wieder in Ordnung ist. Es wird dann immer noch die Pandemie herrschen. Unser Appell an die Politik ist: Lasst uns die Krise gemeinsam bewältigen. Lasst uns mit Bewegung, mit Sport, mit dem, was an Gemeinschaft möglich ist, die Menschen gut durch den Winter bringen. Wir können dazu einen riesigen Beitrag leisten.
Sind Sie zuversichtlich, dass Sportunterricht stattfinden wird?
Ich kann mir gar keinen Pessimismus erlauben. Nordrhein-Westfalen hat diesen Weg bislang offen gehalten, und ich vertraue auf unsere Politik, dass Sportunterricht weiter stattfinden wird. Kinder und Jugendliche hungern nach Bewegung. Ihnen muss dieser Raum offen gehalten werden. Alles andere wäre unverantwortlich.
Sport in der Schule ist nicht nur Sportunterricht…
An den Grundschulen unseres Landes sind 75 Prozent des außerunterrichtlichen Sports Angebote von Vereinen. Es ist richtig, Kindertagesstätten und Schulen offen zu halten. Kinder brauchen Bildung. Dazu gehört nicht allein Unterricht, sondern auch Bewegung. Deshalb bieten wir hier in Nordrhein-Westfalen an, weiter Trainer und Übungsleiter an die Schulen zu schicken. Wir sollten gemeinsam bestmöglich durch die Krise gehen. Wir wollen im schulischen Ganztag die sportlichen Angebote aufrechterhalten. Wenn in Schulen Sportunterricht stattfinden kann, ist am selben Ort auch am Nachmittag Sport möglich.
Der Ministerpräsident von Bayern, Söder, hat in Bezug auf den Ausfall von Schulunterricht vor weißen Jahrgängen gewarnt. Droht im Sport eine verlorene Generation – Kinder und Jugendliche, die keinen Zugang zum Sport finden?
Der Begriff von der verlorenen Generation passt mehrfach. Ein bewegter Lebensstil will gelernt sein. Das kann in der Schule geschehen. Und das geschieht ganz häufig im Verein. Dies passiert nicht von allein. Menschen müssen lernen, was und wie Bewegung zu ihrem Wohlbefinden beiträgt, zu ihrer Gesundheit und zu Ausgeglichenheit, wie sie Konzentration befördert und letztlich hilft, in kognitiven Bereichen besser zu lernen, entspannter und zufriedener zu sein. So etwas kann man nicht binär ein- und ausschalten. Kinder und Jugendliche drohen ein ganzes Jahr in diesem Lernprozess zu verlieren.
Auch im Leistungssport?
Besonders leistungsfähige junge Sportlerinnen und Sportler sind betroffen. Ihnen ist die Perspektive für eine leistungssportliche Ausrichtung ihres Wettkampfsports genommen. Es gibt keinen Anreiz, sich auf einen Wettbewerb vorzubereiten, es gibt kein Ziel, keine Möglichkeit, zu überprüfen, was man mit dem Training erreicht hat. Gerade bei Kindern ist ganz natürlich angelegt, dass sie ihre Kräfte und ihre Leistungen vergleichen wollen. Wenn dies entfällt, weil man nur auf Mathe und Sprachen schaut, nur darauf, die Kinder zu behüten, damit die Eltern arbeiten gehen können, droht tatsächlich eine verlorene Generation. Die Spitze des Eisbergs zeigt sich in Berichten über Kaderathletinnen und -athleten, die in besonders jungem Alter ihre Karriere beenden.
Herrscht Alarmstimmung im Sport?
Wir müssen positiv denken. Vier Wochen werden uns nicht umbringen. Wir müssen den Puls des Sports am Leben halten. Die wichtigste Aufgabe der Sportverbände ist nun der Schulterschluss mit der Politik. Die Öffentlichkeit muss verstehen, dass es wichtig ist, weiter in Bewegung zu bleiben. Wir gehen auf den Winter zu. Es ist wichtig, dass die Menschen auch unabhängig von Covid-19 gesund bleiben. Sport kann dazu einen elementaren Beitrag leisten. Wenn wir die Menschen in Bewegung halten, ist das gut für alle und auch ein Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie.
Nordrhein-Westfalen hat in der Krise die Zuwendungen für Übungsleiter um vierzig Prozent auf mehr als zehn Millionen Euro erhöht. Warum dieses Bonbon für diejenigen, die weitgehend zur Untätigkeit verurteilt sind?
Übungsleiter sind die emotionalen, die persönlichen, die menschlichen Anker für viele in den Sportvereinen. Das gilt für Kinder und Jugendliche, die zu ihrem Übungsleiter als Vorbild aufblicken, das gilt für Erwachsene, die eine enge Bindung zu ihrem Lieblings-Übungsleiter aufbauen. Sie sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten. Viele von ihnen machen das in ihrer Freizeit, gegen ein sehr geringes Entgelt. Viele machen das in einer Art Nebenberuf. Sie sind derzeit am schlimmsten betroffen, weil dieser Nebenerwerb ersatzlos wegfällt und es für sie nicht einmal Kurzarbeitergeld gibt. Hier geht es um materielle Verluste von Menschen, für die diese Beschäftigung durchaus existenzsichernd ist.
Können kleine Vereine, die allein ehrenamtlich geführt werden, die einen kommunalen Sportplatz oder eine Schulsporthalle bespielen, im Lockdown nicht in Winterschlaf fallen, aus dem sie unbeschadet aufwachen, wenn das Schlimmste vorüber ist?
Die Unabhängigkeit der kleinen Vereine von wirtschaftlichen Umsätzen ist in der Pandemie deren große Stärke. Sie können ihren Betrieb herunterfahren, ohne existentiell gefährdet zu sein, weil sie keine hohen Fixkosten haben. Die Ehrenamtlichkeit, die solche Vereine trägt, ist jetzt ein Segen. Aber: Die Belohnung der Menschen, die sich dort engagieren, ist das, was sie erleben, was sie ermöglichen und was sie an Resonanz erfahren. Das fällt jetzt weg. Wir befürchten, dass der Lockdown zu einem Rückzug aus dem Ehrenamt führen wird, nicht anders als in anderen Bereichen der Gesellschaft, wo ein massiver Rückzug ins Private festzustellen ist, teilweise verordnet, teilweise selbst angetreten. Die menschliche Natur ist nicht so, dass die Betroffenen, sobald die Beschränkungen aufgehoben sind, aus der Haustür springen, und alles ist wie vorher. Dieser Aderlass wird den Sport hart treffen.
Der Bund hat im März Soforthilfe geleistet, von der auch Vereine profitiert haben. Er bietet Überbrückungshilfe von 25 Milliarden Euro an, die für den Sport unerreichbar ist, und hat 200 Millionen für Profiklubs bereitgestellt, an die schwer heranzukommen scheint. Was erwarten Sie von Berlin?
Der Eindruck wäre falsch, dass Profisport sich selbst helfen kann. Das kann er nicht. Mit Ausnahme des Fußballs, der im oberen Bereich eine Zeitlang von Fernsehgeldern überleben kann, ist der Topsport auf öffentliche Hilfe angewiesen. Dafür ist der Bund zuständig. Die 200 Millionen Euro für die Teamsportarten werden nicht ausreichen, außerdem sind sie zu schwer zugänglich. Wir brauchen Hilfe vom Bund, die einfacher zu erreichen ist. TopsSport gehört zu uns und hat eine wichtige Funktion. So banal es klingt: Er ist eine Orientierung, ein Ziel, das zu erreichen viele sich anstrengen. Ja, er ist Teil der Unterhaltungsindustrie. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, dort würden überall Millionen verdient. Kein Ruderer, kein Leichtathletik kann ohne Hilfe vom Staat Deutschland vertreten. Der Bund ist gefordert, diesen Menschen und den Institutionen, in denen sie agieren, zugewandt und unbürokratisch zu helfen.
Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, dem 30. Oktober 2020